»Transalp«
Aller Anfang
(Ein kleines Vorwort aus dem Jahr 2015)
2007 stand bei der Schwäbischen Albvereinsjugend unter dem Motto »Soziales und demokratisches Handeln«. Dies war auch das Leitmotiv der Lehrgänge und Freizeiten, die in diesem Jahr stattfanden.
Mit der Schweiz als Spielfeld hatten wir den, zugegebener Maßen sehr akademischen, Brückenschlag zum Thema »Demokratie« gleich mal geschafft. Dass die Alpenkonföderation eines unserer Lieblingsländer ist, hat den Rest der Planung dann sehr einfach gemacht.
Einzig das Transportmittel hat bei fast Allen, mit denen wir unsere Pläne diskutiert haben, Verwunderung, Erstaunen, Ungläubigkeit und Zweifel an unserer geistigen Gesundheit hervorgerufen. Schweiz, Berge, Fahrrad war nun wirklich keine Kombination, die sich unser Bekanntenkreis vorstellen konnte.
Heute grinse ich über das ein und andere Detail, wenn ich den Reisebericht von damals so durchlese. Ich rege mich schon lange nicht mehr über lediglich fünf Minuten Verspätung bei der Bahn auf. 1.000 Höhenmeter würde ich auch nicht mehr unbedingt als »Königsetappe« bezeichnen und meine Etappierung ist inzwischen auch wieder etwas üppiger geworden.
Der unten stehende Bericht ist ursprünglich (erst) im Sommer 2008 in Nummer 137 unserer Vereinszeitschrift »Stufe« erschienen. Für die erneute Veröffentlichung habe ich diesen etwas überarbeitet, einige Passagen erweitert und den GPX-Track ergänzt.
Inzwischen ebenfalls schön festzustellen: Die Schöllenenstraße von Göschenen nach Andermartt hinauf wird derzeit (September 2016) um einen Velostreifen erweitert.
Übersicht
Die Tour von damals
Aller Anfang (Tag 1: Samstag, 28. Juli)
Am 28. Juli stimmt mitten in der Nacht etwas nicht. Was nicht stimmt, ist der Wecker, der mich um fünf Uhr aus den Träumen reißt. Ein paar Jahre später wird diese frühe Uhrzeit für mich zur Regel werden, damals war es verdammt früh. Der Sturz aus der Nacht heraus in die Realität des beginnenden Tages konfrontiert mich mit der recht hart anmutenden Realität: Heute geht die Rad-Freizeit los.
Beim Frühstück scheint das Ganze ein nicht ganz ausgegorener Gedanke. Nur zwei Teilnehmer haben sich angemeldet. Ellen, als Betreuerin für potentielle Teilnehmerinnen, und ich haben uns schon lange vorab entschieden, die Tour auf jeden Fall zu machen. Also mit nur zwei Teilnehmern per Rad quer durch die Schweiz.
Wahrscheinlich, denke ich mir, haben die, die sich nicht angemeldet haben, gewusst warum. Nach einem Wurstbrot und einer Tasse Tee wage ich mich vorsichtig an mein Rädle heran. Noch ist es übervoll mit allem bepackt, »was man halt so braucht«. Dazu gehören die Essensvorräte für die ersten zwei Tage, der Campingkocher (ich hatte mich entschieden, dass einer reicht), die obligate Erste-Hilfe-Ausrüstung, dem (allernötigsten) Reparaturwerkzeug, meine Klamotten inklusive Wechselgarnituren, Schlafsack, Iso-Matte und zwei Zelte. Alles in Allem mehr Ausrüstung als nur für einen allein. Aber irgendwann am Tag, wenn alle beisammen sind, wird schon noch verteilt. Bis dahin muss es so gehen.
So geht es dann auch Richtung Bahnhof, wenn auch erst mal mehr schlecht als recht. Vor der Tour ist noch aufgerüstet worden.
Der neue Gepäckträger hinten verträgt laut Hersteller 30 Kilogramm, für vorne waren endlich Lowrider fällig.
Nun hängen also hinten und vorne die vollbepackten Taschen, das Sperrgut ist oben festgeschnallt und das
Rädle schwankt und wankt wie nach drei durchzechten Nächten.
Dafür funktionieren die Bremsen gut. Auch die sind, wie der ganze Bock, frisch gerichtet.
Früh morgens ist es noch angenehm kühl und ich habe die Welt scheinbar für mich. Der Zug ist pünktlich und hat glücklicherweise einen Niederflureinstieg, so bleibt mir die böse Überraschung noch erspart.
In Stuttgart warten schon die beiden Teilnehmer. Unschwer zu finden. Auch ohne, dass wir uns am Gleiskopf verabredet hätten sieht man die Gemeinsamkeiten: voll bepackte Räder.
Doch noch geht gar nichts los, erst einmal stehen ein paar Stunden Zugfahrt nach Basel an. Am anderen Ende des Zuges ist dann auch das eine Fahrradabteil gefunden, das die Bahn dem Zug nach Singen gönnt. Nicht, dass jemand ernsthaft erwartet hätte, am ersten Ferienwochenende auf einer touristisch beworbenen Zugstrecke, an der mindestens drei große Radfernwege abgehen, könnte es mehr als acht Radfahrer geben. So zumindest interpretiere ich die Zahl unter dem Radsymbol am Waggon.
Bis heute verstehe ich dieses Prinzip nicht und finde werktags, außerhalb von Ferien, Züge im Berufsverkehr, bei denen teils jeder Waggon ein Fahrradabteil aufweist. Mit Beginn der Ferien sind diese Waggons weg und die Züge fahren mit einem einzelnen, kleinen Verlegenheitsfahrradabteil.
Da wir bis nach Singen fahren geht’s gut – wir steigen als letzte aus. Unter dem Hohentwiel und neben Maggi stößt Ellen zu uns, nun ist das Team komplett. Vier verrückte Velo-Fahrer, die von Basel nach Chiasso wollen. Dass dazwischen der knapp 2.100 Meter hohe Gotthardpass liegt, stört bislang noch keinen.
Dass es lustig wird, verspricht der Einstieg in den »Pendolino«, dessen Flur gut zwei Meter über der Bahnsteigkante liegt. Irgendwie schaffen wir es, mit den Rädern in den Zug hoch und hinein. So voll bepackt sind diese nicht nur schwer sondern auch breit. Und so hoch wie der Zuginnenraum liegt, so schmal ist die Tür.
Draußen grummelt ein genervter Schaffner. Dass der Zug schon fünf Minuten Verspätung hat, liegt nicht an uns.
Einen halben Tag nachdem die Nacht jäh geendet hat, stehen wir in Basel. Badischer Bahnhof, nördlich bzw. rechts des Rheins. Nach stundenlangem Geruckel im Zug ist das Rollen auf den Velowegen ein willkommener Genuss.
Flugs ist das Hinterland erreicht und zügig geht die Tour von statten. Wollten wir noch Gepäck umladen? Bisher geht es auch so. Unterwegs besteht derweil Bedarf an Sonnencrème.
Hinter Liestal wird die Landschaft hügeliger, es geht weiter aufwärts dem Ergolztal entlang, immer gut und bequem bis kurz vor Anwil. Die 100 Höhenmeter, die dann kommen, treffen mich wie ein ungebremster Güterzug, selbst der kleinste Gang scheint noch zu schwer. Aber noch geht’s, doch die Abfahrt nach dem Ort hätte wirklich nicht sein müssen. Wie gewonnen, so zeronnen.
Der Hammer kommt erst kurz darauf, nach Oltingen. Auf die 300 Höhenmeter war ich nicht wirklich vorbereitet. Zwar stehen sie im Tourenplan drin, auf der Karte sehe ich auch alles, alleine fühlt sich der Berg anders an, als er aussieht. Meterweise geht es voran, rund alle vier Leitpfosten wird eine Verschnaufpause eingelegt. Bei jedem Neuanfahren geht es gefühlsmäßig rückwärts, ein kurzer Blick fällt auf die zwei Zelte und das ganze Geraffel, das ich eigentlich noch verteilen wollte. »Schön blöd« entfährt es mir – der Fluch kostet Puste, diesmal ist nach drei Pfosten Schluss. Langsam, Tritt für Tritt, schaffe ich es nach oben. Die anderen sind schon lange da und ich tröste mich damit, das schwerste Velo zu haben.
Die »Schafmatt« ist eine Grenzerfahrung: Hüben Basel-Landschaft, düben Solothurn. Von da an gings bergab. Mehr als 30 km/h sind nicht drin, auch wenn die Bremsen noch gut ziehen. Das Stahlross wackelt immer noch, aber inzwischen habe ich ein Gefühl dafür.
Hier weichen wir von der offiziellen Route ab. Statt nach Aarau fahren wir nach Aarburg zum dortigen Zeltplatz. Zehn Kilometer weiter ist unser Etappenziel erreicht. Vor Ort laufen die Vorbereitungen für das Feuerwerk zum Flussfest auf Hochtouren.
Das mit dem Gepäckverteilen hat sich dann auch gelöst. Die Zelte stehen schnell und der erste Teil der Essensvorräte geht den Weg alles Kulinarischen.
Essen, Duschen, Feuerwerk gucken, dann ist Schluss. Trotz Mini-Volksfest nebenan geht die Nacht im Tiefschlaf vorbei. Der erste Buckel ist geschafft.
Schweizer Vorland (Tag 2: Sonntag, 29. Juli)
Frisch ausgeruht und bei mildem Wetter sind am nächsten Morgen die Strapazen des Vortages vergessen. Die frischen Wecken vom Kiosk sind eine Bereicherung für das Frühstück. Am Ende der Tour werden wir uns dekadent an den Backwaren-Service der Zeltplätze gewöhnt haben. Hier kündigt sich lediglich langsam an, wie einfache Dinge als Luxusgüter geschätzt werden.
Auch die alternativen Radrouten sind gut ausgeschildert. Querlandein geht es Richtung Luzern, immer zwischen Feldern und Wiesen durch. Unspektakulär und gemütlich.
Zum Mittagsvesper am Sempacher See wird der Tag vollends sonnig. Wir kommen an das Ufer der Reuß, die oben vom Gotthard herab kommt und durch den Vierwaldstätter See fließt. Ihr entlang kommen wir am frühen Nachmittag nach Luzern, zuerst durch die gewerblich geprägte Vorstadt, dann stehen wir an der Kapellbrücke. Auf der anderen Seite des Sees ragt die Rigi auf und die Berge liegen jetzt irgendwie in der Luft.
Wir radeln am Ufer des Vierwaldstätter Sees entlang. »Kastanienbaum« kann nur hier eine Siedlung heißen. In Horw ist der nächste Zeltplatz erreicht, mit freiem Eintritt ins Strandbad. Ringsum schauen die Berge auf uns herunter und wir zu ihnen auf. So hoch schauen sie noch gar nicht aus. Das Bad tut gut und am Abend erheitert uns ein Amateurzirkus auf dem Zeltplatz. Weniger wegen den Kunststücken, eher wegen den Pannen.
Nasswetter (Tag 3: Montag, 30. Juli)
Aller guten Dinge sind … sicherlich nicht drei. Der Weg führt weiter am See entlang, doch das Nass kommt von oben. In Niederdorf setzen wir mit der Fähre über, dunkle Wolken hängen über dem See.
Auf der Fahrt nach Brunnen wird es zudem noch kalt. Dort legen wir eine schnelle Vesperpause ein. Richtung Nordosten liegt Ibach, keine vier Kilometer weit weg. Die Wiege der Schweizer Taschenmesser.
Unser Weg führt am Urner See entlang, auf dessen anderer Seite das Rütli zu sehen ist, das Schiller im „Wilhelm Tell“ zum Geburtsort der Eidgenossenschaft gekürt hat. Wir radeln mal auf, mal neben der Straße her. Der Verkehr ist zwar nicht immer schön, aber es gibt Radwege und Radstreifen. Immer wieder folgen diese der alten Straße, hoch über dem See.
Zur Mittagszeit schon sind wir in Altdorf. Es ist Montag und die Vorräte werden in der örtlichen Migros aufgefüllt. Auf dem Weg zum Zeltplatz fahren wir am Tell-Denkmal vorbei.
Das wird zur Kenntnis genommen, aber nass und kalt haben wir andere Prioritäten. Am Zeltplatz wird erst einmal der Trockner in Beschlag genommen. Beim Zelt aufschlagen haben wir direkten Zugang zum See – als »Pfütze« geht die Wasseransammlung auf dem durchweichten Rasen wirklich nicht mehr durch.
Warmes, gut gewürztes Essen tut Kopf und Bauch gut. Am Nachmittag verziehen sich die Wolken und die Sonne lacht herab. Milch vom Bauernhof, ein paar Kilometer weiter, wo wir auf der Herfahrt vorbeikamen, darf es noch sein.
Morgen steht uns die Königsetappe bevor, denn am Ende vom Tag wollen wir 1.000 Höhenmeter weiter oben in Andermatt sein.
Nichts als der Berg (Tag 4: Dienstag, 31. Juli)
Der Morgen begrüßt uns mit Sonnenschein und klarem Himmel. Gewitterwolken kommen aus Richtung des Zeltplatzbesitzers, dem es nicht passt, dass wir die immer noch regennasse Auwiese von unserem Zelt verlassen haben und auf der Bank vor der Hütte Platz genommen haben. Missmutig packen wir unsere Sachen und verlagern das Frühstück auf das freie Feld zwischen Schaltdorf und Erstfeld.
Die ersten Kilometer haben gar nichts von einer Bergetappe an sich. Flott und eben führt der Weg das Tal der Reuss entlang. Bis – ja, bis Amsteg. Zügig radeln wir um eine Kurve herum, sehen uns vor einem Buckel, strampeln zackig hoch und stehen auf der alten Passtraße. Und hier auf einmal geht es los, hier ist »der Berg«, der Anstieg nach oben.
Zweifel beschleichen mich ob der Wegführung. Mal geht es rauf, dann wieder kommen langgezogene Abfahrten, die sich elegant ausrollen lassen, doch wenn das Ziel noch etliche Höhenmeter weiter oben liegt, freut so etwas wenig. Doch auch wenn es täuscht, es geht beständig auf. Gegenüber dem ersten Tag ist das Gepäck längst verteilt und überraschend gut geht die Fahrt vonstatten.
Die zwei Teilis bilden eine Ausreißergruppe, Ellen und ich die Verfolger. Hier ist es egal, jeder kennt den Weg und immer mal wieder trifft man sich an einer Trinkpause.
Entlang der Straße liegen die Orte, die man aus dem Verkehrsfunk kennt: Amsteg, Gurtnellen, Wassen, Göschenen. Vor Göschenen weht mir ein herrlicher Duft ins Gesicht, der wie mein Kräutertee zu Hause riecht. Der nennt sich »Alpenkräuter« und daran ist nichts gelogen. Ich genieße noch einige Atemzüge, dann ist auch das vorbei, denn vor Göschenen zieht sich die Straße lang und ohne Abwechslung und macht auf ein paar Kilometer keinen Spaß.
Im Ort selbst werden noch ein paar Riegel eingeworfen und die Flasche befüllt. Der Höhepunkt kommt gleich danach: die Schöllenen, die uns noch 400 Höhenmeter von Andermatt trennt.
Im Hinterkopf regt sich der ein oder andere Zweifel. Zudem steht die Sonne hoch am Himmel und zwischen Stern und Fels wird es heiß und trocken werden. Eine Trost spendende Sicherheit sehe ich ein paar Meter weiter: die Zahnradbahn nach Andermatt hinauf. Wenn es je nicht mehr geht, kann ich immer noch auf Plan B zurückgreifen.
Vor der Abfahrt werden auf der Karte die Kurven bis oben gezählt. Das Ergebnis schwankt je nach Zählweise. Nach der Abfahrt zähle ich die ersten mit, dann ist es mir egal. Schier endlos schlängelt sich die Straße eng am Berghang nach oben. Hinter Göschenen hat sich auch die Spreu vom Weizen getrennt: Die meisten Autofahrer neh- men den Bahnverlad oder das Tunnel, einige Genussfahrer und vor allem Horden von Motorradfahrern haben sich für den gleichen Weg entschieden wie wir. Nur fehlt der Velostreifen, was aber kein Problem ist. Autos, Laster und Motorräder kommen schubweise, zwischen zwei Wellen reicht die Zeit gut von Haltebucht zu Halte- bucht. Nach der ein oder anderen Kehre ist auch Zeit zum Photographieren.
Immer wieder führt die Straße durch dunkle Galerien, die im Sommer vor Steinschlag, im Winter vor Lawinen schützen sollen. Nach der schier unendlichsten Kurve flammt das Sonnenlicht am Galerieausgang ungemein freundlich auf, auf einmal herrscht Trubel und Betriebsamkeit. Rechts rattert die Zahnradbahn vorbei, links quillt die Gaststätte Teufelsbrücke über, direkt vor mir gähnt das »Urner Loch«, das erste Straßentunnel der Alpen.
Erleichtert schnaufe ich durch, geistig brülle ich »oben«. Nach einer Trink- und Fußschüttelpause steige ich wieder auf und jage förmlich die letzten Kilometer nach Andermatt hinein. Alles flach. Am Ortseingang warten auch schon die anderen drei, die den Aufstieg wesentlich souveräner geschafft haben. Eine gute Viertelstunde haben sie gewartet. Ich bin wieder erleichtert – so schlecht war ich gar nicht.
Der Zeltplatz liegt direkt unter der Seilbahn zum Gemsstock. Die Wartehalle, in der sich winters die Skifahrer kalte Füße und steife Knie holen dient nun als Dusche, WC und Waschsaal. Auf der grünen Wiese lassen sich die Heringe wunderbar in den Boden drücken, regelmäßig aufgestellte Holzbänke laden zur Pause ein.
Morgen ist der erste August, Schweizer Nationalfeiertag. Den wollen wir hier verbringen, einen Tag ausruhen. Am frühen Abend verwerfen wir den Plan. Der Wetterbericht bringt für übermorgen Regen, was keine schöne Aussicht für die Passüberschreitung ist. Außerdem sinkt die Temperatur ins Bodenlose, zumindest fühlt es sich so an. Wir entscheiden, gleich am nächsten Tag weiter zu fahren. Meine Füße rebellieren zwar, aber wir entscheiden demokratisch, zumal wir in der Schweiz sind. Eine weise Entscheidung, denn nachts mummeln wir uns bei unter zehn Grad in die Schlafsäcke, eisige Luftzüge blasen unter der Zelthaut durch. So schön es auch inmitten der Berge ist, zwei solche Nächte können nicht gesund und schon gar nicht erholsam sein!
Ein Hauch von Süden (Tag 5: Mittwoch, 01. August)
Zum Frühstück gönnen wir uns Buttercroissants und schätzen den heißen Tee. Noch etwas verschlafen und kältesteif satteln wir unsere Stahlrösser und sind keine drei Kilometer weiter stark ernüchtert. Ein kalter und zudem starker Wind bläst uns entgegen. Langsam kriecht die Sonne den blauen Himmel hoch, allein die Wärme mag nicht kommen. Ab Hospental geht es »den Pass« hinauf, 700 Höhenmeter sind es noch.
Die ersten Kilometer führen auf der Autostraße entlang. Bergauf mit Gegenwind. »Eisiger Atem des Gotthard« kreiere ich als Namen dafür, leide aber trotz lyrischer Anwandlungen nicht an Sauerstoffmangel. In einer S-Kurve kommt der Wind böenartig von der Seite und ich küsse die Leitplanke. Ich hatte mir diesen letzten Aufstieg heroischer vorgestellt, nun muss ich mich mit der harten Realität abfinden.
Immer wieder ziehen Rennradfahrer vorbei. Ich rufe ihnen nicht hinterher, wie schön das wäre, ohne Gepäck und mit nichts wiegendem Fahrrad hinaufzuziehen. Ich wollte es ja so, konzentriere mich aufs Atmen und rechne Stück für Stück meiner Ausrüstung durch, das ich wahrscheinlich gar nicht brauchen werde aber trotzdem wacker die Höhenmeter hinaufschleife.
Auf 1.900 Metern zweigt die Veloroute ab. Während die Motorisierten eine neuausgebaute Straße nehmen, dürfen die Radler die historische Kopfsteinstraße nehmen. Auf der sind alle 100 Meter Markierungen angebracht, deren Zählen zu einem Trost wird. Das Geholpere zehrt an den Nerven und ist trotz geringer Steigung schwerer als der Aufstieg bisher. Sogar wenn es leicht runter geht muss man Treten. »Ich könnt’ mein Rad gleich in den See werfen« meint ein Teili. Mir geht’s nicht anders. An besagtem See nebenan zeltet eine Gruppe Jugendlicher. Eigentlich verboten, ich grinse aber bei dem Gedanken an den kalten Wind heute Nacht.
Den letzten Kilometer schiebe ich, als ich rausgefunden habe, dass es damit genauso schnell geht wie beim Radeln. Derweil erholen sich meine Knochen von der Rüttelei. Kurz unterhalb der Passhöhe ist die Straße geteert und ich steige wieder auf. Der Ehre ist Genüge getan, dass ich zumindest radelnd oben ankomme.
Am Militärstützpunkt ist der Feiertagsgottesdienst zu Gange, die Straße ist links und rechts voll zugeparkt. Nach dem obligaten Gipfelphoto drängt es uns schon wieder weiter. Noch haben wir 80 Kilometer vor uns, aber keine 30 Höhenmeter sind aufwärts dabei.
Gleich hinter dem Hospiz hat uns die Pflasterstraße wieder. »Via Tremola«, Straße des Zitterns. 37 Haarnadelkurven und über 1.000 Höhenmeter geht es jetzt bergab. Wir lassen es laufen, unterwegs ist immer mal wieder eine Photopause angesagt, in der mich ein Holländer mit Wohnmobil überholt. An dem fahren ich gleich darauf wieder vorbei, fünf Kurven weiter unten wiederholt sich das Spiel und fortan immer wieder. Mein Fahrrad scheppert und kleppert, nach gut vier Kilometern höre ich Töne, die ich noch gar nicht kannte und Teile fangen an zu dröhnen, von denen ich bisher keine Ahnung hatte, dass sie da sind. Zwischendrin immer mal wieder ein herzhaftes Jauchzen unserer Teilis, die schon einige Kurven weiter sind. Mitleidvoll blicke ich auf die zahlreichen Radler, die von dieser Seite aufsteigen. Sie werden hoffentlich wissen, was sie da tun.
In der Einfahrt zur oberen Kaserne von Airolo finden wir uns alle wieder und der Holländer überholt mich zum letzten Mal. Der Wachhabende schaut müde auf und beschließt dann, uns nicht weiter zu beachten. Wir entblättern uns von der obersten Schicht Kleidung und lassen es weiter Rollen. Kilometer für Kilometer wird es wärmer und südländischer. Die Bauweise erinnert schon an Italien.
Einige Stunden später schwitzen wir in der Ebene vor Bellinzona. Hier ist es schon so flach, dass wir wieder strampeln müssen, von der dicken Kleidung am Gotthard fehlt außer den gebeulten Packtaschen jede Spur. Auch das Atmen fällt schwer, trocken und heiß ist es. Das Mittelmeer lässt fast grüßen. Der Zeltplatz ist klein aber fein, meine paar Brocken Italienisch reichen aus, um unsere Zelte einzubuchen und für alles weiter reichende Deutsch als Verhandlungssprache auszuhandeln.
Als wir das Schwimmbecken sehen sind wir erst mal so gar nicht bei der Sache, alles weitere kann warten.
Abends warten wir auf das Feuerwerk über Bellinzona. Alles Gute zum Geburtstag, Schweiz!
Nel lago (Tag 6: Donnerstag, 02. August)
Weit ist es nicht an den Lago Maggiore. Ein kurzer Abstecher zur Kastellanlage von Bellinzona muss am Morgen noch sein, so ohne weiteres wollen wir durch das UNESCO-Kulturerbe nicht durchradeln. Gegen Mittag sind wir das Tal des Ticino, dem namensgebenden Flusses des Kantons Tessin, bis ans Ende gefolgt. In Tenero, direkt am Ufer des Lago, schlagen wir unsere Zelte für zwei Tage auf. Ruhe tut jetzt gut, und der See lädt dazu ein. Dreimal am Tag Baden gehen und ein Ausflug zu Fuß nach Locarno stehen an.
Die Zelte stehen neben einer Laube mit Marmorbank und Grill. Beides wird von uns ausgiebig genutzt. Am letzten Tag hält die Glut auch noch für ein traditionelles Raclette her. Bei hochsommerlichen Temperaturen, die trotz der besten Crème eine rote Haut provozieren passt das auch nur um des Ambiente willen.
Sprintwertung (Tag 7: Freitag, 03. August)
Nach zwei Tagen am Lago fällt das Abfahren schwer. Die Rechnung des Zeltplatzes macht es aber ein wenig leichter. Einen Pass hätten wir noch: den Monte-Ceneri-Pass, der immerhin auch noch mal 400 Höhenmeter abverlangt. Ausgeruht und mit der Gotthard-Erfahrung im Rücken ist der aber gut machbar, neben der Straße führt ein zwei Meter breiter Velostreifen entlang, und hinten geht es wieder bergab.
Unterwegs fahren wir an Montagnola vorbei, das sich Hermann Hesse als Heimat gewählt hat. Am Luganer See schlagen wir unser letztes Lager auf, zu Füßen des Monte Generoso. Für die 50 Kilometer und 400 Höhenmeter haben wir gerade einmal drei Stunden gebraucht. Und wieder dürfen wir in einem See baden. An diesem Abend ist uns der Campingkocher egal, das letzte Budget wird in Pizza angelegt.
Und wieder retour (Tag 8: Samstag, 04. August)
Am letzten Tag stehen wir früh auf, gönnen uns diesmal keine Wecken oder Croissants vom Kiosk. Die 20 Kilometer nach Chiasso wollen wir bis 08:30 Uhr geschafft haben, immerhin müssen wir heute alle zurück nach Hause.
So früh morgens ist die Welt noch schläfrig und ruhig, die taufrische Kühle macht beim Fahren rich- tig Laune. Hinter Coldrerio führt die Route durch Weinberge und Felder, ein letztes Mal geht es zackig bergab auf Pflasterstein und zwischen Trockenmauern. Chiasso hat den Charme einer von Industrie geprägten Grenzstadt.
Wir sind pünktlich da, werfen dem S-Bahn-Fahrer ein paar nett gemeinte Wortfetzen entgegen, die er lächelnd quittiert. Die Stadt schläft noch und wir sind gleich auf der Rückfahrt. Erst in Lugano merkt man etwas von Geschäftigkeit. In Bellinzona steigen wir um. Alles mustergültig: der Velowaggon ist auf dem Wagenstandsanzeiger angegeben, der Zug kommt auf die Minute pünklich. Wir verstauen Fahrräder und Gepäck und nehmen im normalen Waggon platz, der trotzdem große Panoramafenster hat.
Innert ein paar Stunden erleben wir unsere tagelange Velotour im schnellen Rücklauf: Airolo, Göschenen, Schwyz. So schnell geht alles vorbei. Das Umsteigen in Zürich ist auch kein Problem, ein Bahnbediensteter hilft uns sogar beim Ausladen und bekommt einen Riesenschreck, als er mein Fahrrad auf den kaputten Ständer stützen will. Ich kann ihn beruhigen.
In Schaffhausen hat uns die Deutsche Bahn wieder. Offensichtlich kann sie auf uns verzichten, denn sie kommt fünf Minuten später, das Fahrradabteil ist wieder proppenvoll und bis Ulm sind es schon 15 Minuten Verspätung. Die Klimaanlage geht auch nicht, also behelfen wir uns nach der »méthode officier suisse«: mit dem Sackmesser kriegt man so ein verriegeltes Kippfenster leicht auf.
In Ulm verlässt uns Ellen in Richtung heimatliche Gefilde, ich begleite die Teilis bis nach Plochingen. Sinnlos war unser Unterfangen, am Ulmer Bahnhof zu erfahren, wo der Fahrradwaggon hält. »Dees stoht am Waga druff« meint einer der Bahner. Wagenstandsanzeiger für die Regionalzüge gibt es hier nicht. Wir bleiben in der Mitte stehen, der Bahnsteig ist übervoll und sehen den Waggon »mit dem Rädle druff« an uns vorbeirauschen. Ein hinterherjagen ist undenkbar, also steigen wir ein, wo wir sind. Das darf ich dann noch mit dem Schaffner ausdiskutieren und vermisse die Schweizer Bahn noch am gleichen Tag.
Am Abend kämpfe ich mich das kleine Buckele zu uns heim hoch. Ich spüre die Tour in jeder Ecke meines Körpers. 370 Kilometern quer durch die Schweiz. Ein Pass mit 2.100 Metern. Alles selber geschafft, mit Zelt und Krempel hinten und vorne drauf. Wie auch jetzt: ich habe wieder die Zelte und alles andere. Aber viel wichtiger: ich hab’s geschafft. Lächelnd muss ich an das eine oder andere Tief auf der Fahrt denken und stelle fest, dass mir das nun egal ist.
Ich träume vor mich hin und ertappe mich dabei, wie ich an ein nächstes Mal denke, an Rhein- und Rhonetal, an Oberalp- und Furkapass. Aber zuerst einmal schüttle ich den Kopf, bin froh, mein Gepäck daheim abladen zu können und freue mich auf mein weiches Bett.